Der rheinische Adel im Provinziallandtag der preußischen Rheinprovinz

Hans-Werner Langbrandtner

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Nachdem Frankreich im Ersten Pariser Friedensvertrag vom 30. Mai 1814 wieder weitestgehend auf die Grenzen von 1792 reduziert worden war, beschlossen die in Wien versammelten Mächte am 8. Februar 1815, dass weite Teile der vormals zum Alten Reich gehörenden, dann französischen Gebiete am Rhein an Preußen fallen sollten. Daraufhin erließ der preußische König Friedrich Wilhelm III. am 5. April 1815 zwei Besitzergreifungspatente, mit denen er diese Länder mit dem Königreich Preußen staatsrechtlich vereinigte. Beeinflusst von den preußischen Reformern um den Staatskanzler Karl August Fürst von Hardenberg versprach Friedrich Wilhelm am 22. Mai desselben Jahres: "Es soll eine Repräsentation des Volkes gebildet werden. Zu diesem Zwecke sind die Provinzialstände [...] herzustellen und dem Bedürfnis der Zeit gemäß einzurichten; wo gegenwärtig keine sind, sie anzuordnen. Aus den Provinzialständen wird die Versammlung der Landes-Repräsentanten gewählt, die ihren Sitz in Berlin haben soll." Sie sollte das Beratungsrecht "über alle Gegenstände der Gesetzgebung [...] mit Einschluß der Besteuerung" haben. [1]

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Die hier zugesagte zeitnahe Einsetzung der vorbereitenden Kommission und mit ihr jegliche Verfassungspläne revidierte der König im Jahr 1820. Von der Einberufung eines allgemeinen Landtags für Preußen nahm er 1821 endgültig Abstand, berief allerdings eine Kommission unter der Leitung des Kronprinzen Wilhelm zur verfassungsmäßigen Ausarbeitung der Provinzialstände ein. [2] Zwischenzeitlich hatte sich um Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein, Johann Wilhelm Freiherr von Mirbach-Harff, Franz Anton Graf von Spee und Alexander Freiherr von Wylich zu Diersforth eine Gruppierung von rheinischen und westfälischen Adligen gebildet, die vehement für die Wiederherstellung und Reprivilegierung des Adelsstandes eintrat und schließlich das Gehör des Kronprinzen erlangte. In einer Denkschrift [3] überreichten sie am 26. Februar 1818 auf Schloss Engers Staatskanzler Hardenberg ihre Verfassungswünsche, die eine weitgehende Wiederherstellung der vorrevolutionären Gesellschaftsordnung zum Ziel hatten.

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Die 38 Unterzeichner zeigten sich zwar bereit, auf – längst verlorene – Privilegien wie die Steuerfreiheit oder das Recht auf Besetzung hoher Verwaltungsstellen zu verzichten, pochten aber auf den Grundsatz der erblichen Landtagsfähigkeit auf Grundlage eines in langer Familientradition ererbten Grundbesitzes, also auf das Sitz- und Stimmrecht im künftigen Landtag. Diese Ideen fielen in der mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 beginnenden Restaurationszeit auf fruchtbaren Boden. Zu den Beratungen der nun eingesetzten Kronprinzenkommission zur Vorbereitung der Provinziallandtage wurden landesweit konservative Notabeln der einzelnen Provinzen geladen. Besonderen Einfluss erlangten die rheinischen Notabeln um die erwähnten von Mirbach-Harff, von Spee und von Wylich. [4] Am 5. Juni 1823 erließ der König dann das Gesetz zur Einrichtung der Provinzialstände "im Geiste der älteren deutschen Verfassungen, wie solche die Eigenthümlichkeit des Staates und das wahre Bedürfniß der Zeit erfordern". [5] Die Provinziallandtage gingen also auf den ständischen Gedanken zurück, doch die historischen Korporationsrechte des Adels wurden zugunsten des Großgrundbesitzes aufgegeben. Der Provinziallandtag hatte kein Selbstversammlungsrecht, sondern wurde seitens des Königs einberufen. Seine eingeschränkte Gesetzgebungskompetenz spiegelt sich auch in der auf wenige Wochen im Jahr begrenzten Tagungsdauer wider, über die dortigen Debatten konnte in den ersten Jahrzehnten nur sehr eingeschränkt berichtet werden.

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Die Mitgliedschaft im traditionellen Adelsstand, der Ritterschaft, war primär an den Besitz eines Rittergutes mit der Qualifikation eines Mindest-Grundsteuersatzes gebunden, war aber nicht mehr dem Adelsstand allein vorbehalten. Daher empörte sich der rheinische Adel weniger über die ihm nun abgehenden Mitwirkungsmöglichkeiten an der Gesetzgebung (legislative Befugnisse nur in kommunalen Fragen der Provinz, lediglich Beratung der Zentralregierung bei der Gesetzgebung und in Steuerfragen) als vielmehr über die Bevorzugung des Besitzes vor dem traditionellen Geburtsrecht. Die Ritterschaft hatte in den altpreußischen Landständen die Hälfte der Sitze und Stimmen innerhalb eines Dreiständesystems (Ritterschaft, Städte und Landgemeinden) inne. Das Ausführungsgesetz für die beiden Westprovinzen (Rheinprovinz und Provinz Westfalen) von 1824 [6] sah jedoch aufgrund der historisch gewachsenen Gegebenheiten ein Vierständesystem vor: im rheinischen Provinziallandtag je 25 Sitze und Stimmen für die Ritterschaft, die Städte und die Landgemeinden sowie zunächst vier Stimmen für den ersten Stand der Standesherren, die als geborene Mitglieder Virilstimmen erhielten. [7]

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Nachdem im Jahr 1825 den Grafen von Hatzfeldt für die Grafschaft Wildenburg-Schönstein eine fünfte Virilstimme zugesprochen worden war, erlangte schließlich am 11. Oktober 1826 auch Joseph Fürst zu Salm-Reifferscheidt-Dyck aus königlicher Gnade die Zulassung zum ersten Stand und verfügte seither über die sechste Virilstimme. Da Landtagsbeschlüsse generell eine Zweidrittelmehrheit benötigten, übte der rheinische Adel mit den Stimmen der Ritterschaft und der Standesherren effektiv ein Vetorecht (31 Stimmen gegen 50 Stimmen) aus, zumindest dann, wenn er geschlossen stimmte. [8] Bei den Wahlen der Abgeordneten für die Ritterschaft gelang es dem Adel bis 1837, durch Stimmdisziplin und Absprachen den Zugang bürgerlicher Rittergutsbesitzer zu unterbinden. [9]

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Auch jenseits der politischen Ebene des Provinziallandtags konnte der rheinische Adel seine Position ausbauen. Am 18. Januar 1826 stellte Friedrich Wilhelm III. den von den Franzosen aufgehobenen Geburtsadel offiziell wieder her und gestand ihm fünf Wochen später – im Widerspruch zum Realerbteilungsrecht des linksrheinisch nach wie vor gültigen Code Civil – das Fideikommissrecht als adliges Erbrecht zu. Auf dieser Grundlage gelang es dem rheinischen und westfälischen Adel sogar, gruppiert um den Standespolitiker Johann Wilhelm von Mirbach-Harff, im Jahr 1837 die Zustimmung des Königs zur Gründung der Genossenschaft des rheinischen ritterbürtigen Adels mit noch weitergehenden Sonderrechten zu erhalten.

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Friedrich Wilhelm III. berief den rheinischen Provinziallandtag am 29. Oktober 1826 erstmals in Düsseldorf ein und ernannte aus den Mitgliedern des ersten und zweiten Standes den Landtagsmarschall: Der Standesherr Johann August Karl Fürst von Wied hatte dieses Amt bis zu seinem Tod 1836 inne. [10] Der Landtagsmarschall leitete als Vertreter des Königs die Verhandlungen des Landtags während der anberaumten Sitzungsperiode und benannte aus den Vertretern des ersten und zweiten Standes die Vorsitzenden der 13 Fachausschüsse, die die Landtagsverhandlungen vorbereiteten. Er war nicht dem Landtag, sondern nur dem König Rechenschaft schuldig. [11]
 

Anmerkungen

[1] Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1815, Nr. 1-15, Berlin [1815], 103f.

[2] Joachim Stephan: Der Rheinische Provinziallandtag 1826–1840. Eine Studie zur Repräsentation im frühen Vormärz (= Rheinprovinz 7), Köln 1991, 15-17.

[3] Archiv Schloss Harff, Bestand Mirbach – Akte 201/7: Denkschrift – die Verfassungs-Verhältnisse der Lande Jülich-Kleve-Berg und Mark betreffend – Ueberreicht im Namen des ritterschaftlichen Adels dieser Provinzen, 1818. Vgl. Reinhold K. Waitz: Die Denkschrift des niederrheinischen und westfälischen Adels vom 26. Februar 1818, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 35 (1971), 201-273, hier: 251ff.

[4] Stephan: Provinziallandtag (wie Anm. 2), 21-25.

[5] Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1823, Berlin [1823], 129: Gesetz über die Anordnung von Provinzialständen in Preußen vom 5. Juni 1823.

[6] Archiv des Landschaftsverbands Rheinland, Pulheim. Bestand Provinzialarchiv – Akte 1: Gesetz wegen Anordnung der Provinzialstände für die Rheinprovinzen, 27. März 1824. Gedruckt in: Stephan: Provinziallandtag (wie Anm. 2), 113ff.

[7] Archiv des Landschaftsverbands Rheinland, Pulheim. Bestand Provinzialarchiv – Akte 262.

[8] Stephan: Provinziallandtag (wie Anm. 2), 64ff.

[9] Archiv des Landschaftsverbands Rheinland, Pulheim. Bestand Provinzialarchiv – Akte 254, 255; Horst Lademacher: Die nördlichen Rheinlande von der Rheinprovinz bis zur Bildung des Landschaftsverbandes Rheinland (1815–1953), in: Franz Petri / Georg Droege (Hg.): Rheinische Geschichte, Band 2 (Neuzeit), Düsseldorf 1976, 475-843, hier: 501.

[10] Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand 403 (Oberpräsidium der Rheinprovinz), Akte 203: Ernennungen zum Landtagsmarschall und dessen Stellvertreter 1826–1852.

[11] Lademacher: Die nördlichen Rheinlande (wie Anm. 9), 503f. Vgl. auch Archiv des Landschaftsverbands Rheinland, Pulheim. Bestand Provinzialarchiv – Akte 256, 256a.

Empfohlene Zitierweise
Hans-Werner Langbrandtner, Der rheinische Adel im Provinziallandtag der preußischen Rheinprovinz, aus: Martin Otto Braun, Elisabeth Schläwe, Florian Schönfuß (Hg.), Netzbiographie – Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck (1773-1861), in: mapublishing, 2014, Seitentitel: Provinziallandtag (Datum des letzten Besuchs).