Ein Todesfall

Florence de Peyronnet-Dryden

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In die Ehe mit Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck brachte Constance de Théis ihre Tochter, Agathe Clémence Pipelet (1790–1820), genannt "Minette", mit, die aus ihrer ersten Ehe mit dem Chirurgen Jean-Baptiste Pipelet stammte. Der Kontakt zu Minettes leiblichem Vater war nach der Scheidung der Eltern im Jahr 1800 wohl auf Initiative Constances, die einen negativen Einfluss des Vaters befürchtete, abgebrochen worden, sodass Minette im Rheinland in der Person des Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck womöglich eine Art Vaterfigur fand. Das junge Mädchen lernte auf Schloss Dyck Deutsch und empfand die Gegend schon bald als ihre Heimat. Im Jahre 1813 heiratete sie den 1766 geborenen französischen Offizier Louis-Bernard de Francq, "Baron d'Empire" ab 1810. Das Paar wohnte nach der Hochzeit in Paris und auf dem Lande unweit der französischen Hauptstadt. Die Ehe brachte drei Söhne hervor: Constant, Alexandre und Félix.

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Minettes Ehemann verstarb jedoch schon im Jahr 1819, vermutlich an Tuberkulose. Die junge Witwe zog daraufhin zu ihrer Mutter und ihrem Stiefvater nach Dyck zurück. Es ist zu vermuten, dass sie dort den jungen Leutnant Althoff, seinerzeit Adjutant Fürst Josephs als Kommandeur des lokalen Landwehrbataillons, kennenlernte, der für sie schon bald unangemessene Gefühle empfand. Den zeitgenössischen Quellen zufolge muss es sich bei Althoff um einen psychisch schwer gestörten Menschen gehandelt haben: Am 11. Juni 1820 warnte Landwehr-Major Peter Georg von Prondsinski, der zeitweilige Vorgesetzte Althoffs, den Fürsten vor dem "Wahnsinn" des "räthselhaft(en)" jungen Mannes, von dem ein "Excess" zu befürchten sei. [1]

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Drei Tage nach Prondsinskis besorgtem Schreiben trat die befürchtete Katastrophe ein: Am 14. Juni 1820 zog Althoff bei seinem Abschiedsbesuch auf Schloss Dyck plötzlich seine Pistolen aus der Tasche, um erst Minette und dann sich selbst zu töten. Die Katastrophe erschütterte das ganze Haus zutiefst und erregte zugleich öffentliches Aufsehen. Berichte und Zeitungsartikel lieferten ganz unterschiedliche Schilderungen der Tat, die teilweise sogar als doppelter Selbstmord interpretiert wurde, der von den beiden Liebenden als letzter verzweifelter Ausweg aus einer unstandesgemäßen Liaison – die Constance de Salm verhindern wolle – gesehen worden sei. Darüber hinaus veröffentlichte der Kurator der Gräfin von Hatzfeld, der ersten Frau Josephs zu Salm-Reifferscheidt-Dyck, ein gewisser Karl Bouton, einen Artikel. In diesem behauptete er, Minette komme getreu den Lehren der katholischen Kirche die ehrenvolle Bezeichnung einer Tochter der Fürstin zu Salm gar nicht zu, da Maria Theresia von Hatzfeld immer noch die rechtmäßige Fürstin sei. Die nach französischem Recht vorgenommene Scheidung war nach Boutons Argumentation ebenso wenig gültig wie die Zivilehe zwischen Joseph und Constance.

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Constance de Salm stürzte infolge der Ereignisse in eine tiefe Depression. [2] Ihr Gatte war ihr in dieser schweren Zeit ein starker und umsichtiger Partner, der den Kontakt mit ihren Briefpartnern aufrecht erhielt, solange Constance nicht in der Lage war, selber zu schreiben und ihre Gedanken zu ordnen. Auch kümmerte er sich um die drei Kinder der Minette, nun Vollwaisen, die er von nun an gemeinsam mit Constance erzog (die Kinder nannten ihn "cher papa"). Die Familie setzte sich erfolgreich gegen Bouton zur Wehr: Am 29. Juli 1820 wurde auf ihren Wunsch eine Gegendarstellung in der "Gazette officielle" veröffentlicht. Nach einem Prozess, in dem ihm Verleumdung vorgeworfen wurde, wurde Bouton im Juli 1821 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. [3] Constance de Salm trug sich offenbar mit Plänen, einen eigenen "wahren Bericht" über die Ereignisse auf Dyck in Le Surs "Annuaire historique universel" zu verfassen. Im Mai 1821 nahm sie allerdings von diesem Vorhaben Abstand, das die furchtbaren Umstände der Tat nur erneut in Erinnerung rufen würde. Letztlich druckte Le Sur lediglich eine kurze Notiz über den Vorfall ab, in der die Namen der handelnden Personen anonym blieben. Obwohl Constance de Salm stets beteuert hat, dass in den ihr vorliegenden Briefen und Tagebüchern Minettes kein Hinweis auf eine Liebesbeziehung zu Leutnant Althoff zu finden sei, [4] wurde noch in der jüngeren Literatur [5] die Theorie eines doppelten Selbstmords vertreten.

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Ein Quellenfund aus dem Frühjahr 2013 scheint in diesem Fall nun endlich Klarheit zu schaffen und Constance de Salms Darstellung zu bestätigen. In einem Pariser Antiquariat wurden kürzlich neben hunderten von bisher unbekannten Briefen Constances [6] auch zahlreiche weitere Dokumente aus dem Familienkreis entdeckt, darunter Briefe und Tagebucheintragungen Minettes aus den Jahren 1819/20, die deren Abneigung gegen Althoff deutlich zum Ausdruck bringen. [7] Diesen Zeugnissen zufolge hat die junge Witwe den ebenfalls noch jungen Leutnant Althoff, Sohn des Krefelder Bürgermeisters, auf Schloss Dyck kennengelernt. Althoff war offenbar recht bald davon überzeugt, dass Minette eindeutige Gefühle für ihn hege. Er versuchte sie nicht zuletzt mit allerlei Drohungen zur Einwilligung in eine Eheschließung mit ihm zu zwingen. Sie allerdings blieb ihm gegenüber auf Distanz, wie aus einem an ihn gerichteten Brief vom Dezember 1819 hervorgeht:

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"Que penser, Monsieur, de la lettre que vous m'avez écrite hier, quel oubli de tout respect, de tout devoir envers Dieu et les hommes, […] est-ce bien un jeune homme qui appartient à une famille respectable qui ose m'écrire comme vous l'avez fait, qui ose me dire lorsque je refuse sa main pour des motifs sacrés, que si je ne consens pas à l'épouser il se tuera et m'accusera aux yeux du public d'être la cause de sa mort." [8]

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Der weitere Verlauf ist bekannt: Als Althoff sich bei ihr für ein "letztes klärendes Gespräch und adieu" am 14. Juni 1820 auf Schloss Dyck einstellte, erschoss er die junge Frau unweit von ihren Kindern. Zwei Tage nach der Tat wurde Minette in der Familiengruft der Salm-Reifferscheidt-Dyck beigesetzt.
 

Anmerkungen

[1] Vgl. Major Peter-Georg von Prondsinski an Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck, Neuss, 11. Juni 1820. In: Archiv Schloss Dyck, Bestand Fürst Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck – Kart. 24/6.

[2] Alle Informationen wurden aus dem Fonds Salm der Société des Amis du Vieux Toulon übernommen.

[3] Vgl. Elisabeth C. Goldsmith: Going Public. Women and Publishing in Early Modern France, Ithaca 1995, 240.

[4] Zum Beispiel Fonds Salm (SAVTR), Digit. DHIP C11/S84/054-056.

[5] Zum Beispiel Margit Sachse: Als in Dyck Kakteen blühten… Leben und Werk des Dycker Schlossherrn Joseph Altgraf und Fürst zu Salm-Reifferscheidt-Dyck (1773–1861), Pulheim 2005, 132-136.

[6] Es handelt sich um die zweite Hälfte des Bestandes aus Toulon, welche vor zwei bis drei Jahrzehnten von einem Forscher entliehen und leider nicht wieder an das damals zuständige Archiv zurückgegeben wurde.

[7] Vorläufige Erschließungsnummer 36 und 37.

[8] Clémence de Francq an Leutnant Althoff, Dyck, 21. Dezember 1819. Dieser Brief befindet sich im neu aufgetauchten Bestand, in der Akte Nr. 36 (Vorläufige Erschließungsnummer). Aus der gleichen Akte (Tagebucheinträge) geht außerdem hervor, dass Minette ihre Mutter und ihren Stiefvater über den Vorfall nicht informierte, um sie einerseits nicht zu beunruhigen, und andererseits Althoff nicht in Schwierigkeiten zu bringen, da sie dachte, sie könne die Lage alleine meistern; diese irrtümliche Annahme wurde ihr zum Verhängnis.

Empfohlene Zitierweise
Florence de Peyronnet-Dryden, Ein Todesfall, aus: Martin Otto Braun, Elisabeth Schläwe, Florian Schönfuß (Hg.), Netzbiographie – Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck (1773-1861), in: mapublishing, 2014, Seitentitel: Minette (Datum des letzten Besuchs).