Editorial

Martin Otto Braun und Florian Schönfuß

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Das Jahr 1815 war ein Schwellenjahr. Nach seiner 'Herrschaft der 100 Tage' erlosch der Stern Napoleons auf dem Schlachtfeld von Waterloo endgültig. Die nördlichen Rheinlande, die noch bis Anfang 1814 unter der dort knapp 20 Jahre währenden französischen Herrschaft gestanden hatten, waren zu diesem Zeitpunkt bereits ein Teil Preußens. Der Wiener Kongress besiegelte, vor allem auf Druck Großbritanniens, die Etablierung der militärisch potenten deutschen Großmacht an der Westgrenze des soeben aus der Taufe gehobenen Deutschen Bundes. Weiter rheinaufwärts gerieten mit der bayerischen Rheinpfalz und Rheinhessen auch die übrigen ehemals französisch besetzten Gebiete unter neue Herren. Für die sozial äußerst heterogen strukturierten rheinischen Adelsfamilien, die sich – wenn sie nicht ab 1794 emigriert oder ausgestorben waren – mit dem napoleonischen Regime zum Teil sehr vorteilhaft arrangiert hatten, bedeutete dieser erneute Umbruch der Machtverhältnisse wiederum eine große Herausforderung, manches Risiko, und bot doch viele Chancen.

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Das Territorium der bei Neuss am Niederrhein gelegenen ehemaligen reichsunmittelbaren Herrschaft Dyck lag bereits im Ancien Régime an einer Grenzscheide der politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Einflusssphären Frankreichs, Österreichs, Preußens und der Niederlande. In einem Brief aus dem Jahr 1814 schildert die französische Schriftstellerin und Dichterin Constance de Salm (1767–1845), zweite Ehefrau des bis zum Einzug der Revolutionstruppen 1794 in Dyck als Altgraf und Landesherr regierenden Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck (1773–1861), eindrücklich diese schwierige und vor allem ungewisse Lage unmittelbar nach den antinapoleonischen Befreiungskriegen:

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"Meine Rolle in dieser Welt ist recht doppelsinnig, […]. Und obgleich ich diese nicht freiwillig ergriffen habe und sie mich nicht das Land meiner Geburt vergessen lässt, wende ich mich doch denen zu, bei denen ich bin; weil nun einmal alles so ist, wie es ist. Ich folge den Bewegungen der Königreiche, Imperien und ihren Regenten, wie man einer Partie Schach folgt. […] Zum Beispiel hatte ich heute den General zum Diner, der La Fère [1] genommen hat. So waren die einen in Laon, die anderen in Soissons. Dies geht mir so nahe, dass ich wünschte, mir sei ein Gefühl des Patriotismus erlaubt. Aber meine Position bedingt es, dass ich mich den anderen und mir selbst gegenüber zügele, und wenn am Abend die Gewinner und Verlierer gemeinsam eine Partie Lotto oder Piquet spielen, bin ich gezwungen, meine Rolle zu erfüllen und mir in Gewissheit zu rufen, dass es gilt, die Umstände zu bedenken und nicht die Menschen zu beurteilen." [2]

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Diese Situationsbeschreibung Constance de Salms traf in ganz ähnlicher Form auch auf ihren Ehemann zu. Aus dem rheinischen Uradelsgeschlecht derer zu Salm-Reifferscheidt stammend, wurde er im Laufe seines Lebens mehrmals Zeuge und Objekt großer gesellschaftlicher und politischer Umbrüche, die seine Position in Frage stellten. Beendete der Einmarsch der französischen Revolutionstruppen seine Stellung als souveräner Landesherr, was ihn zunächst sogar zum einfachen Citoyen degradierte, bis er als vielfältig begabter und engagierter Staatsdiener Napoleons im Range eines Comte d'Empire in dessen neu geschaffenen Verdienstadel aufgenommen wurde, so hatte er auch nach 1815 unter preußischer Herrschaft wieder um seine Anerkennung zunächst als Adliger, dann als Standesherr zu kämpfen. In letzterem Punkte blieb dem seinerzeit reichsunmittelbaren, wiewohl nie reichsständischen Altgrafen weitgehend der Erfolg versagt. Seinen Fürstentitel erhielt er 1816 rein aus königlicher Gnade.

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Dennoch schaffte es Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck zu allen Zeiten, sich überaus vorteilhaft den wechselnden Rahmenbedingungen anzupassen. Das in der neueren Adelsforschung oft beschworene Paradigma vom "Obenbleiben" [3], das zuletzt immer wieder Ausgangspunkt für die Untersuchung von Karrierestrategien und Verhaltensmustern des europäischen Adels war, findet insofern auch in seiner Person Bestätigung. Doch deuten bereits die skizzierten Verluste seiner ständischen Privilegien, Herrschaftsrechte und Titel, die vorläufige Sequestrierung und hohe Besteuerung des ihm verbleibenden Besitzes einhergehend mit den Kriegswirren der französischen Zeit an, dass dieses letztendliche "Obenbleiben" nicht ohne zwischenzeitliche Verlusterfahrungen und Einbußen möglich war – materiell wie ideell. Das Paradoxon der "steten Unbeständigkeit" erforderte von allen Beteiligten ein Höchstmaß an gesellschaftlicher und politischer Flexibilität, was im Leben des Ehepaars Salm-Dyck bereits in einem nahezu ruhelosen Pendeln zwischen den Wohnorten Dyck und der französischen Metropole Paris seinen Ausdruck fand.

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Die vorliegende Biographie, die in dem durch die Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Forschungsprojekt "Gewinner und Verlierer – Der rheinische Adel in der Sattelzeit 1750–1850" an der Universität zu Köln entstanden ist, widmet sich der Person und dem Lebensweg Josephs zu Salm-Reifferscheidt-Dyck. Sie setzt sich zum Ziel, insbesondere die Brüche und Übergänge in seinem wechselvollen Leben genau zu vermessen, im Gesamten jedoch eine aussagefähige Vergleichsfolie für künftige Untersuchungen zu womöglich völlig anders verlaufenen Adelsbiographien zu bieten. Denn aufgrund der mannigfachen, ganz unterschiedlichen Handlungsfelder, die er im Laufe seines Lebens bestellte, des Geschicks, mit dem er unter verschiedenen Regimen reüssierte, der Virtuosität, mit der er seine sozialen Netzwerke flocht und nutzte, eignet er sich hervorragend als "Messlatte" zur Untersuchung adliger 'Gewinner und Verlierer' in ergebnisoffener wie interdisziplinärer Perspektive.

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Die einzelnen Beiträge nehmen dem gemäß zunächst die Herkunft und die gesellschaftliche Stellung seiner Familie in den Blick. Sodann beleuchten sie die verschiedenen "Handlungsräume" [4] des Dycker Schlossherrn, die ihm als "Arenen" im Ringen um das "Obenbleiben", mal eher als Rückzugsraum, mal als Karrieresprungbrett, als Loyalitätsausweis, Knotenpunkte seiner gesellschaftlichen Beziehungen, Einkommensquellen und Prestigegeneratoren, und nicht zuletzt zur Befriedigung persönlicher Leidenschaften und Selbsterfahrungsbedürfnisse dienten. Hier sei einleitend nur eine Auswahl dieser Handlungsfelder und Arenen angeführt. So wirkte Salm-Dyck unter anderem als Vertreter regionaler wie persönlicher Interessen in den provinzialen Repräsentativorganen (Departementrat – Provinziallandtag); als Forschender, Gelehrter und Förderer der Wissenschaft; als Offizier und lokaler Mitorganisator im preußischen Militär; als Gutsherr und Agrarpionier in der Landwirtschaft; als Maire/Bürgermeister; stiller Teilhaber am Industrialisierungsprozess; als Sammler, Mäzen und mannigfach Gestaltender in Kunst, Kultur und Gartenbau.

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Die sehr breite Fächerung der Interessen, Talente und Betätigungsfelder Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dycks, die zahlreichen Forschungsdesiderate um seine Person, andererseits die sehr günstige Quellenlage legten von vornherein die Arbeit in einem interdisziplinären Autorenkollektiv nahe, das sich aus Experten verschiedenster Affiliationen zusammensetzt. Die einzelnen Beiträge sind daher stets in ihrem Zusammenspiel, also gemäß den intensiven Wechselwirkungen, Abhängigkeiten und Synergien der Handlungsfelder untereinander zu betrachten. Sie erscheinen als thematisch stark konzentrierte (und eben deshalb vergleichsweise knappe), dokumentarisch verfasste und vor allem eng miteinander verknüpfte, das heißt bei einer Online-Publikation verlinkte, Biographikbausteine. Koordiniert von den Herausgebern wurden die hier publizierten Beiträge nicht 'nebeneinander her', sondern 'aufeinander zu' geschrieben, was nicht allein der Vermeidung von unnötigen Redundanzen, sondern zuvorderst der fruchtbringenden Ineinanderblendung ganz unterschiedlicher Überlieferungsstränge und Forschungsansätze Rechnung trägt.

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Das Produkt der Arbeiten ist somit gleich in mehrfacher Hinsicht als eine 'Netzbiographie' zu bezeichnen. Neben der multiperspektivischen Ausrichtung ist hiermit auch die freie und ubiquitäre Verfügbarkeit in Form des Online-Zugriffs (Open-Access-Prinzip) gemeint. Dass Digitalisate und Transkriptionen zitierter Quellenstücke die Netzbiographie ergänzen, verdankt sich ebenfalls dem hier gewählten Publikationsmedium. Die zeitliche Gliederung in die drei Perioden Ancien Régime, Französische Zeit und Preußische Zeit ist nur als lockere Vorgabe zu verstehen – sie erleichtert die Kontextualisierung und verdeutlicht den "beschleunigten Wandel" innerhalb des Untersuchungszeitraums. Die Beiträge wurden zwar je nach ihrer zeitlichen Schwerpunktsetzung jeweils einem solchen Modul zugeordnet, verweisen zumeist jedoch auch auf Entwicklungen, die vorhergehen oder vorausweisen.

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Der multiperspektivische Ansatz manifestiert sich ebenso in den unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten auf die einzelnen Artikel. Diese sind ganz bewusst mit jeweils fünf inhaltlichen Schlagworten markiert. Die Bedeutungshierarchie dieser Schlüsselbegriffe im Leben des Protagonisten wird mithilfe der Tag-Cloud visualisiert. Die Prominenz einzelner Orte, Institutionen, Personen und Phänomene wird hierdurch auf innovative Weise sichtbar gemacht. Gleichzeitig ergibt sich somit ein weiterer Zugang zu den Einzelbeiträgen. Die so entstehende Anordnung der Themenfelder verspricht weitere Erkenntnisse in Bezug auf das Zusammenspiel der verschiedenen Lebens- und Wirkungsbereiche. Parallel hierzu erlaubt die Zeitleiste einen chronologisch geordneten Zugriff. Das Itinerar markiert in Ergänzung dazu die Wege, Lebensorte und -stationen Salm-Reifferscheidt-Dycks. Im Glossar werden speziellere Begriffe, Institutionen und Phänomene erläutert, deren Zusammenschau wiederum eigene Aussagekraft hat.

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Die Netzbiographie versteht sich als 'lebendiges Projekt'. Ihre Inhalte können und sollen immer weiter ergänzt, aber auch aktiv kommentiert werden. Deshalb wurde auf ein abschließendes Gesamtresümee bewusst verzichtet. Stattdessen gewährt eine perspektivische Bestandsaufnahme der bisherigen Ergebnisse, die wiederum keineswegs unverrückbar 'ins HTML gemeißelt', sondern gleichfalls aktualisierbar ist, einen abschließenden Überblick. Die Netzbiographie möchte Anregungen zur weiteren Erforschung der Person Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dycks, in erster Linie aber der Reaktions- und Adaptionsstrategien seiner adligen (Sattel-)Zeitgenossen vermitteln – und zwar dezidiert über das 'adelsgeschichtliche Reagenzglas' des Rheinlands hinaus. Die präsentierten Transkriptionen und Digitalisate ausgewählter Quellenstücke (siehe Beispiel "Korrespondenz mit Christian Gottfried Nees von Esenbeck dem Direktor des Botanischen Gartens in Bonn") sollen nicht zuletzt ein kritisch abwägendes, gemeinschaftliches Weiterforschen erleichtern und befördern. Die Arbeiten zum Projekt wurden bereits früh durch einen wissenschaftlichen Blog begleitet, der als Ort des fruchtbringenden Austauschs und der konstruktiven Diskussion der jeweiligen Befunde dienen soll.

Köln im Dezember 2013
 

Anmerkungen:

[1] Französische Gemeinde in der Picardie. Der befestigte Ort wurde am 27. Februar 1814 im Zuge der Befreiungskriege von preußischen Truppen belagert und erobert.

[2] Bei dem hier angeführten Auszug handelt es sich um eine Übersetzung des französischen Originals. Constance de Salm an Pierre Raboteau, Dyck, 10. September 1814, in: Société des amis du Vieux Toulon et de sa région, Toulon, Fonds Salm, Digitalisate des Deutschen Historischen Instituts Paris, Original: C09/S74/159-163/Abschrift: C02/S09/659-661, hier: Abschrift Folio 661.

[3] Rudolf Braun: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Europäischer Adel 1750–1950 (= Geschichte und Gesellschaft-Sonderheft, 13), Göttingen 1990, 87-95. Zu kritischen Anmerkungen hierzu siehe insbesondere: Ewald Frie: Adel um 1800. Oben bleiben?, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 3 [13.12.2005], URL: http://www.zeitenblicke.de/2005/3/Frie/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-2457, (07.07.2013).

[4] Reinhart Koselleck: "Erfahrungsraum" und "Erwartungshorizont" – zwei historische Kategorien, in: ders.: Vergangene Zukunft – Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2000, 349-375, hier: 354ff.

Empfohlene Zitierweise
Martin Otto Braun, Florian Schönfuß, Editorial, aus: Martin Otto Braun, Elisabeth Schläwe, Florian Schönfuß (Hg.), Netzbiographie – Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck (1773-1861), in: mapublishing, 2014 (Datum des letzten Besuchs).